Mittwoch, 2. September 2015

Eine Kette fataler Fehler

Ich habe damals in der Klinik jemanden kennen gelernt. Er heißt Simon. Zu Anfang waren wir noch zusammen auf der offenen Station. Dort verbringt man den ganzen Tag, doch man hat ab und zu mal einen Einzelausgang. Von Anfang an schien er mir besonders. Er erzählte viel, sehr viel. Ich war beeindruckt davon, wie offen er war. Wobei all das natürlich auch strategisch war, denn er wollte unbedingt Aufmerksamkeit (wofür ich ihn oder andere nie verurteilen würde, weil ich das verstehen kann). Er erzählte von Erlebnissen. Er erzählte, dass er bisexuell sei, ein Transvestit und dass er damals freiwillig gefoltert wurde und auch gefoltert hat. Er erzählte, dass er sadistisch ist und dass er kannibalistische und vampiristische Züge hat. Ich glaube, für so gut wie jeden wären solche "Geständnisse" schockend gewesen, doch, was das in mir ausgelöst hat ist unvorstellbar. Ich verurteilte ihn dafür nicht und tue es noch immer nicht. Niemand kann etwas für seine Neigungen und er schien ja etwas dagegen unternehmen zu wollen, sonst wäre er ja nicht in einer Klinik gewesen. Jedoch hatte ich Angst. Wahnsinnige Angst, doch war ich auch neugierig. Ich wollte mehr erfahren, wollte ihn analysieren. Ich wollte ihn einfach nur verstehen. Ich mochte ihn. Er war ein netter und außerordentlich höflicher Mensch. Zum Beispiel betrat er nur dann das Zimmer meiner Mitbewohnerin und mir, wenn man ihm dies auch ausdrücklich erlaubte. Seine Geständnisse lösten in mir einfach nur Verwirrung aus. Einerseits hatte ich totale Angst, andererseits wollte ich mehr wissen, dazu war ich noch wütend auf mich, weil ich Angst hatte. Ich wollte keine Angst vor ihm haben. Denn er konnte ja nichts dafür. Naja, er schien mich jedenfalls von Anfang an sehr zu mögen, doch haben wir nicht viel Zeit gehabt, um uns kennen zulernen, denn ich wurde eine oder zwei Wochen nach seiner Ankunft in der Klinik entlassen. Gut, mehr oder weniger entlassen, ich kam in die Tagesklinik (TK). Dort ist man von morgens bis nachmittags, schläft also Zuhause. Ich lebte mich dort schnell ein. Die Gruppe war ausnahmsweise mal sehr angenehm und ich bekam viel Anerkennung und Aufmerksamkeit auch von Marvin (ein Junge, in den ich mich verliebt hatte). Nach ein paar Wochen waren so gut wie alle aus der Gruppe weg und neue Patienten kamen. Unter anderem Simon. Anfangs war noch alles wie früher zwischen uns. Doch dann fing er an anhänglicher zu werden. Er verbrachte nur noch Zeit mit mir und niemand anderem. Er gestand mir seine Liebe. Und obwohl ich nicht das Gleiche empfand, bedeutete mir das unglaublich viel. Dann wurde ich entlassen. Er schrieb mir SMS, in denen er immer wieder seine Liebe zu mir ausdrückte und mir stark zu verstehen gab, dass er unter der unerwiderten sehr leidet. Das Ganze wurde immer extremer. Es kam sogar zu Selbstmorddrohungen. Irgendwann dann ging ich, ohne es recht zu merken, eine Unterhaltung mit "Biesty" ein. So heißt angeblich die gefräßige Persönlichkeit in ihm, Diese Biesty erklärte mir, wie es zu der Persönlichkeitsspaltung kam, von der er mir schon in der Klinik erzählt hatte und das dabei drei Persönlichkeiten entstanden sind: Simon, ein Mädchen namens Lulu und Biesty. Lulu hatte wohl die Oberhand, weil sie Simon angeblich getötet hatte und weil Biesty damit nicht klar kam, wollte sie an Lulu Rache nehmen und sie leiden lassen, mit meiner Hilfe. Obwohl ich dieses Gespräch, welches nur über WhatsApp stattgefunden hatte, eigentlich hätte abblocken sollen, ließ ich mich darauf ein. Denn mein Helfersyndrom meldete sich. Ich konnte Simon das mit der Persönlichkeitsspaltung nicht so ganz abnehmen, doch ich ließ mich dennoch auf dass Gespräch ein. Als das dann beendet war, war ich vollkommen verwirrt. Alles, woran ich geglaubt hatte wurde durch eine einzige Unterhaltung komplett auf den Kopf gestellt. Ich konnte ihm/ihr zwar immer noch nicht glauben, doch hatte "Biesty" oder wer auch immer es geschafft, dass ich alles nochmal neu betrachtete. Ich glaube ihm/ihr immer noch nicht. "Biesty" hatte mir auch mehrfach angedroht, dass "sie" mich verletzen würde, sollte ich "ihr" mal persönlich begegnen. Ich brach zusammen, hatte panische Angst. Ich weiß bis heute nicht, was ich glauben soll. Weiß bis heute nicht, wie ich mit 'Lulu' umgehen soll. Ich weiß nur, dass ich eine Menge Fehler begangen habe, indem ich mich zu intensiv darauf eingelassen habe. Andererseits bereue ich das auf der anderen Seite aber nicht, weil ich 'Lulu' so zeigen konnte, dass jemand da ist, der zuhört. Ich weiß nicht, wie ich weiter handeln soll. Die Geschichte ist durch und durch einfach nur verwirrend.